goodbye moscow
MULTIMEDIA-REPORTAGE VON CARMINA LENA GRÜNIG
Goodbye Moscow
In der russischen Hauptstadt werden Tausende Wohnbauten aus der Sowjetzeit abgerissen. Bewohner erzählen, bevor sie sich vom alten Moskau verabschieden.
Über das projekt

Moskau und die Chruschtschowki
Moskau ist eine betriebsame Stadt. Kein Wunder, denn hier leben zwölf Millionen Menschen. Auf den grossen Plätzen und breiten Trottoirs eilen Menschen hin und her, bei jedem Zebrastreifen wartet ein Dutzend Moskauer auf das Grünlicht, auf den Ringstrassen rollen ununterbrochen Autos vorbei. Oft bilden sich aufgrund des intensiven Verkehrs Staus, und Pendler brauchen Stunden, um nach Hause zu kommen.

Deswegen benutzen viele die Moskauer Metro – rund neun Millionen Fahrgäste pro Tag strömen durch die schweren Schwingtüren und über die Rolltreppen in den Untergrund. Es ist das wohl schönste U-Bahn-System der Welt. Jede Station ist auf eine andere Art verziert – von schnörkeligen neoklassizistischen Säulen über sozrealistische Mosaike, welche den Arbeitsalltag verherrlichen, bis zu modernistischen Hallen, die an Weltraumstationen erinnern. An fast jeder Haltestelle sind auch noch die Symbole erhalten, die daran erinnern, welches Regime für den grössten Teil dieser architektonischen Meisterwerke verantwortlich war: Hammer und Sichel, das Emblem der Sowjetunion.

Vieles in Moskau erinnert an die Zeit des Kommunismus. Das Bild der Stadt ist von Bauten aus dieser Ära geprägt. Das wohl häufigste Überbleibsel ist die Chruschtschowka: Lange, fünfstöckige Wohnblocks, die in beinahe jedem Viertel der Stadt anzutreffen sind. Die Chruschtschowki wurden ab 1958 in der gesamten Sowjetunion gebaut, um dem Wohnungsmangel in den Städten entgegenzuwirken. Ihren Namen bekamen sie vom damaligen sowjetischen Ministerpräsident Nikita Chruschtschow, der das landesweite Bauprojekt einleitete. Die günstigen Plattenbauten erwiesen sich als wirksame Lösung für die Wohnungsnot, und Chruschtschowki wurden bis in die Achtzigerjahre errichtet.
Chruschtschowka im Bezirk Akademitscheskaja
Geschichte der Chruschtschowka
Ursprünglich sollten die Chruschtschowki nur etwa 25 Jahre stehen, bevor sie in einem neuen Projekt des sowjetischen Staates abgerissen und ersetzt werden sollten. Entsprechend wurden die Wohnblocks nicht mit dem Ziel der Langlebigkeit gebaut. Doch als die ersten Chruschtschowki ans Ende ihrer Lebenszeit kamen, steckte die UdSSR in einer Krise. Die Reformpolitik des damaligen Regierungschefs Michail Gorbatschow rüttelte in den späten Achtzigern an den Grundpfeilern des Staates, und 1991 hörte die Sowjetunion auf zu existieren. Mit den Chruschtschowki hingegen passierte nichts. Die Temporärbauten blieben stehen, auch Jahrzehnte nachdem für sie ein Ersatz gefunden werden sollte. Während der Staat, der für den Unterhalt der Blocks gesorgt hatte, verschwand, konnten ihre Bewohner ihre Wohnungen aufkaufen.
bAUPROJEKT IN Moskau,
1968. IM HINTERGRUND
CHRUSCHTSCHOWKI.
BILD: zvg/ MODEST OSIPOW
Links: Chruschtschowki
im Bezirk
Choroschjowskij, 1968.
BILD: ZVG/ MODEST OSIPOW
Das Renovationsgesetz
27 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion und 60 Jahre nach dem Bau der ersten Chruschtschowki sind die meisten dieser Wohnblocks nicht mehr im besten Zustand. Nun hat die Moskauer Stadtregierung reagiert. Mit einem neuen Projekt – das unter dem Namen "Renovationsgesetz" von der Stadt verabschiedet wurde – soll endlich ein Ersatz für die heruntergekommenen Chruschtschowki gefunden werden. Viele begrüssen die Chance, in eine neue, moderne Wohnung zu ziehen. Andere wiederum wehren sich gegen die Bestreben, welche ihnen ihr Eigentum und ihr langjähriges Zuhause kosten würden. Zudem befürchten viele, dass die geplanten Abrisse und Neubauten in erster Linie einen Zweck hätten: Wie viele Infrastrukturprojekte in Russland könne es zur massiven Veruntreuung von Steuergeldern dienen. Das Projekt erhielt einen Deckmantel der Demokratie und der Selbstbestimmung: Bewohner der Blocks konnten über das Schicksal ihres Gebäudes abstimmen. Trotzdem sind viele nicht überzeugt. Seit der Lancierung des Projekts vor einem Jahr sind Tausende Moskauer auf die Strasse gegangen, um dagegen zu demonstrieren.
dAS pROJEKT
Die Zukunft der Chruschtschowki ist also mit so heftigen wie unterschiedlichen Emotionen verbunden. Zudem erzählen die Chruschtschowki Geschichten über das Persönliche – das Leben ihrer Bewohner – und über das Historische – die andere Welt und das andere System, in denen die Bauten entstanden. Diese Emotionen und Geschichten sind das Thema dieser Webseite, welche im Rahmen einer Bachelorarbeit erstellt wurde.
Die Portraits
In der Webdokumentation werden fünf verschiedene Bewohner dargestellt - alle mit verschiedenen Meinungen und Geschichten. Über das Menü kann man sich durch die Personen klicken.
Michail
Michail ist ein Befürworter des Renovationsgesetztes. Schauen Sie sich das folgende Video an, um etwas über ihn und seine Geschichte zu erfahren oder scrollen Sie weiter, um direkt zur schriftlichen Reportage zu gelangen.
Stararchitekten wie diejenige aus dem Büro von Zaha Hadid wollen die Stadt neu planen und für uns neue, modernere und grössere Wohnungen bauen.
Michail, Befürworter des Renovationsprojekts
"Ich mag den Stadtteil in dem ich wohne wirklich sehr, er ist zentral gelegen, das war mir immer wichtig."
Ich treffe Michail, der sich mit seinem Kosenamen Mischa vorstellt, an einem kalten Märztag bei der Metrostation Uliza 1905 Goda. Die Station zeichnet sich durch eine überdimensionale Statue von Soldaten und Arbeiterinnen aus, welche an die Russische Revolution von 1905 erinnern soll. Gemeinsam nehmen wir von dort aus ein Uber zu Mischa nachhause, mit dem Taxi sind das nur 5 Minuten. "Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist meine Wohnung nicht sehr gut erschlossen, ich nehme meistens mein Fahrrad, um in die Stadt zu kommen", sagt der 30-jährige. Trotzdem ist die Wohnung von Mischa gut gelegen, die Metrostation ist zu Fuss ungefähr 20 Minuten entfernt und von dort aus gelangt man innert 5 Minuten ins Stadtzentrum Moskaus. Einer der Vorteile, die Mischas Wohnung bringt. "Ich mag den Stadtteil in dem ich wohne wirklich sehr, er ist zentral gelegen, das war mir immer wichtig."

Uliza 1905 Goda
"Die Wohnung sieht nur so gut aus, weil ich sie renoviert habe."
Bei der Wohnung angekommen fällt vor allem eines auf: Mischas Chruschtschowka ist nur eine von Dutzenden identischen Wohnblocks, die hier stehen. Bevor wir uns das Haus jedoch genauer von Aussen ansehen, gehen wir rein in die Wärme. Mischa wohnt im dritten Stock, welcher zu Fuss erreicht werden muss, denn einen Lift gibt es in diesem Gebäude nicht. "Zieh die Schuhe im Gang aus, du kannst Finken von mir haben", bittet mich Mischa und erklärt, dass in Russland keiner mit den Schuhen ins Haus tritt. In meinen zu grossen Finken gehe ich durch die Eineinhalbzimmerwohnung, die zu einem Studio umgebaut wurde. Ich bin überwältigt: Im Vergleich zur heruntergekommenen Aussenfassade sieht sie so modern aus. Trotzdem will Mischa hier raus. "Die Wohnung sieht nur so gut aus, weil ich sie renoviert habe. Sie entspricht aber nicht dem Standard und der Grösse, welche zu den heutigen Ansprüchen der Menschen passen." Mischas Wohnung ist an der Ecke des Gebäudes, er hat somit die hellste Wohnung des Blocks, da es mehr Fenster hat. "Das ist ein Pluspunkt: Ich habe so viel Licht."
Beim Gespräch auf der Couch erzählt mir Mischa von sich. "Ich bin nicht hier aufgewachsen, also habe ich keine richtige emotionale Bindung zu dieser Wohnung. Ausser vielleicht, dass sie meine erste eigene Wohnung ist." Bevor Mischa vor sechs Jahren nach Moskau kam, wohnte er in Tula, wo der Schriftsteller Leo Tolstoj geboren wurde. "Dort bin ich aufgewachsen und dort lebt noch heute meine Familie. Ich besuche sie manchmal am Wochenende." Mischa ist für die Arbeitssuche nach dem Wirtschaftsstudium in die Hauptstadt Russlands gezogen, jetzt arbeitet er auf einer grossen Bank hier.
"Mein Fahrrad ist sehr stylish, ich liebe es einfach. Wenn ich damit in der Stadt herumfahre, schauen mir die Leute nach."
Ich frage ihn nach den vielen Reisebüchern, die in seiner kleinen Wohnung zu finden sind und er erklärt mir, wie unheimlich gerne er reise. "Ich war gerade in Georgien und im Sommer reise ich wieder vier Wochen nach Brasilien." Falls er nicht gerade auf Reisen oder bei der Arbeit ist, ist Mischa auf seinem Fahrrad in der Stadt unterwegs. "Damit fahre ich zur Arbeit, zum Einkaufen oder einfach auf einen Ausflug in die Stadt. Aber Moskau ist keine Fahrradstadt, viele Menschen reisen mit der Metro oder dem Auto, sofern sie sich eins leisten können." Mischa meint, dass es viel schneller sei, mit dem Fahrrad von Ort zu Ort zu fahren, als mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Er bestellte sein geliebtes Fahrrad im Internet auf einer amerikanischen Plattform, die alte französische Fahrräder kopiert. "Mein Fahrrad ist sehr stylish, ich liebe es einfach. Wenn ich damit in der Stadt herumfahre, schauen mir die Leute nach.", schwärmt Mischa. Man merkt ihm an, dass er auf ein stilvolles Auftreten Wert legt. Seine Wohnung ist mit coolen, minimalistischen Möbeln bestückt, jedes Objekt hat seinen Platz. Er selbst trägt eine Hornbrille und einen Dreitagebart. Mischa gehört zur jungen, vernetzten Generation Moskaus. Immer wieder schreibt er seinen Freunden auf dem MacBook eine Facebook-Nachricht, er empfiehlt mir seine Lieblingsbars und zeigt mir auf Google-Maps ihren Standort. Seine Welt scheint sehr weit entfernt von derjenigen der Chruschtschowki.
"Stararchitekten wie diejenige aus dem Büro von Zaha Hadid wollen die Stadt neu planen und für uns neue, modernere und grössere Wohnungen bauen."
Mischa zeigt mir auf der Facebook-Seite des Renovationsprojekts Bilder von den Wohngebäuden, die als Chruschtschowki-Ersatz gebaut werden könnten. Es sind Visualisierungen, auf denen attraktive Ziegelsteinbauten mit grossen Fenstern und grünen Innenhöfen zu sehen sind. Er glaubt fest daran, dass die Regierung die Bewohner der Chruschtschowki nicht enttäuschen wird. "Stararchitekten wie diejenige aus dem Büro von Zaha Hadid wollen die Stadt neu planen und für uns neue, modernere und grössere Wohnungen bauen. Deshalb stimmte ich ja, als es um den Abriss unseres Blocks ging." Mischa will einfach in eine Wohnung, die mehr zu einer modernen Stadt wie Moskau passt. "Ich liebe meine kleine Wohnung, aber sie ist nicht unersetzbar. Ich kann ja alle meine Möbel mitnehmen, ich müsste die Wohnung nach dem Abriss auf keinen Fall vermissen." Mischa schmeisst mit seinen Freunden oft Partys in seiner jetzigen Wohnung. Obwohl sie so klein ist, hätten immer alle Platz. "Es ist fast zu einer Tradition geworden, dass ich einmal im Monat alle meine Freunde in die Wohnung einlade." In einer neuen Wohnung könne er das noch genau so machen, wieso müsste es also schwierig sein, diese Wohnung aufzugeben? "Zudem stört mich das Treppenhaus in dieser Chruschtschowka. Wir haben keinen Platz für unsere Fahrräder und Menschen mit körperlicher Einschränkung können allerhöchstens im ersten Stock wohnen, weil es keinen Aufzug gibt." In Russland bedeutet der erste Stock das Erdgeschoss, daher haben die typischen Chruschtschowki auch fünf Stöcke, obwohl es für Schweizer eigentlich vier wären.
Das Treppenhaus.
Einen Aufzug gibt es
nicht.
Mischa will mir erklären, wieso er und der grösste Teil der anderen Bewohner dieser Chruschtschowka für den Abriss stimmten. "Wir werden in den nächsten Wohnungen einfach mehr Platz haben. Heute lebe ich auf ungefähr 30 Quadratmetern, in der neuen Wohnung könnten es 40 Quadratmeter sein." Wann sie ausziehen können, ist jedoch noch unklar, auch die möglichen neuen Wohnungen stehen noch nicht. Aber Mischa beunruhigt das nicht, er ist sich sicher, dass der Tag kommen wird, an dem er seine Sachen packt und in eine modernere und grössere Wohnung ziehen kann.
"Respektiere die Fahrradfahrer!"
"Viele Leute hatten genau davor Angst, dass sie ihren geliebten Stadtteil verlassen müssen. Aber das müssen sie nicht!"
Ich frage Mischa, wie die ganze Umsiedlung geregelt ist. "Jetzt habe ich eine Einzimmerwohnung. Deshalb werde ich in den neuen Häusern auch eine Einzimmerwohnung erhalten. Natürlich gratis, ich muss kein Geld zahlen. Aber wie bereits gesagt, die neue Einzimmerwohnung wird grösser und moderner sein." Die jetzige Wohnung ist das Eigentum von Mischa, er hat sie gekauft, deshalb werde er eine neue auch ohne Bezahlung erhalten. "Vielleicht werde ich mich dann aber für eine Zweizimmerwohnung entscheiden, ich möchte ja auch mal eine Familie gründen und dafür bräuchte ich mehr Platz. Für eine grössere Wohnung müsste ich dann aber draufzahlen."

Gemäss Renovationsgesetz blieben alle Umgesiedelten in dem Stadtteil, in dem sie jetzt schon wohnen, erklärt Mischa. "Viele Leute hatten genau davor Angst, dass sie ihren geliebten Stadtteil verlassen müssen. Aber das müssen sie nicht! Im Projektplan steht ganz klar, dass wir hier bleiben dürfen. Und deshalb habe ich ja gestimmt." Anstatt zu befürchten, er könnte an einen weniger guten Standort verlegt werden, glaubt Mischa, dass er vielleicht Glück hat und sogar ein wenig näher ans Stadtzentrum rücken darf.
Aussicht von
Mischas Balkon auf
die Vorhöfe der
Churschtschowki.
Man müsse sich keine Sorgen machen, von den Behörden hintergangen oder enttäuscht zu werden, sagt er. "Ich weiss, dass viele Leute skeptisch sind. Aber ich verstehe ihre Angst nicht. Das ist alles im Gesetz festgehalten." Obwohl ich immer noch nicht überzeugt bin, dass die russischen Behörden immer die Gesetze einhalten, sage ich nichts mehr. Mischas Begeisterung und Vorfreude auf sein neues Zuhause sind entwaffnend.
Bevor ich mich von Mischa verabschiede, machen wir noch einen Spaziergang durch den Vorhof der Chruschtschowka, in der er wohnt. Von aussen hätte ich nie gedacht, dass Mischa eine so gemütliche und stilvolle Wohnung hat. Die Fassaden der Chruschtschowka sind verlottert, der Garten und Spielplatz wirken unter dem dreckigen Schnee verloren. Ob es im Sommer mit den vielen Bäumen hier besser aussieht? "Na ja, idyllisch ist es nicht, denn der Hof ist immer mit Autos vollgeparkt."
Julia
Julia hat ihr ganzes Leben in ihrer Chruschtschowka verbracht - trotzdem befürwortet sie das Renovationsprojekt. Schauen Sie sich das Video über Julia an oder scrollen Sie direkt zum schriftlichen Teil.
Die Leute schauen den ganzen Tag Fernsehen und lieben alles, was die Regierung macht. Dann kommt dieses Gesetz, die Behörden empfehlen, die alten Häuser aufzugeben. Und jetzt werden diese Leute plötzlich zu Rebellen!
Julia, Befürworterin des Renovationsprojekts
"Ich feiere jedoch schon lange keine Ostern mehr."
Julia holt mich bei den Gleisen der Metrostation Preobraschenskaja ab. Im ersten Moment wirkt sie sehr aufgestellt und zufrieden. "Morgen sind Russisch-Orthodoxe Ostern, daher werden hier überall Blumen verkauft." Tatsächlich hat es an jeder Ecke Frauen, die Weidenkätzchen-Äste verkaufen. "Ich feiere jedoch schon lange keine Ostern mehr. In Russland ist Ostern aber ein Riesending – wichtiger als Weihnachten. Es gibt grosse Messen überall in der Stadt und am Abend Feuerwerke. Die Familien kommen zusammen und feiern." Wir gehen zusammen zu ihrer Wohnung, die zu Fuss ungefähr fünf Minuten von der Metrostation entfernt liegt. Auf dem Weg laufen wir an vielen Chruschtschowki vorbei, durch die verdreckten und mit Hundehaufen überfüllten Vorhöfe. Auch Abfall liegt hier überall herum. "Die Leute schmeissen ihren Abfall einfach aus den Fenstern", sagt Julia.
Das Viertel, in dem
Julia wohnt.
Julia wohnt im fünften und somit obersten Stock, einen Lift gibt es hier nicht. "Jetzt geht es mir körperlich noch gut, aber wie ich hier hochkommen soll, wenn ich alt bin, ist mir schleierhaft." Die Chruschtschowki seien nichts für alte Menschen, sie würden in den Wohnungen depressiv, weil sie nicht rauskämen.
"Das Heizungssystem der Chruschtschowki ist kompliziert – niemand hat einen Radiator, der selber regulierbar ist. Es existiert nur eine Zentralheizung irgendwo im Quartier, die alle Wohnungen heizt."
Julia, die Russisch als Fremdsprache unterrichtet, öffnet mir die Tür zu ihrer dunklen Wohnung. Aus der Dunkelheit steigt eine Kreatur hervor. "Das ist Schmel." Schmel, ein kleiner, weisser chinesischer Schopfhund, bellt mich aggressiv an, währenddem Julia versucht, sie zurecht zu weisen. Nach einigen Minuten scheint sich Schmel beruhigt zu haben und wir begeben uns in die enge, mit Dekorationen und Geschirr vollgeladene Küche. Trotz der Unordnung ist es gemütlich hier. Julia bietet mir Tee und Schokolade, die es schon zu Sowjetzeiten gab, an. "Die beste Schokolade!", sagt Julia. Tatsächlich hat der Riegel ein feines Karamellinneres. "Siehst du diese Holzwand hinter dir? Das musste mein Vater bauen." Julia zeigt auf ein holziges Konstrukt, das ein wenig an eine Tischplatte erinnert und an der eigentlichen Küchenwand hängt. Dahinter sei eine Heizung, die enorm heiss werde. "Das Heizungssystem der Chruschtschowki ist kompliziert – niemand hat einen Radiator, der selber regulierbar ist. Es existiert nur eine Zentralheizung irgendwo im Quartier, die alle Wohnungen heizt. Und damit es auch für die Menschen, die in den untersten Wohnungen wohnen, warm ist im Winter, müssen die Heizungen voll aufgedreht werden. Für die Bewohner im obersten Stock ist es dann richtig heiss." Die Wand in der Küche, die mit dem Holzteil überdeckt wurde, sei teilweise so heiss gewesen, dass man sich daran verbrannte, wenn man sie antastete. "Und das in jedem Zimmer! Stell dir mal vor, wie wir manchmal geschwitzt haben." Ihr Vater, der die Wohnung in der Sowjetzeit kaufte, habe in fast jedem Raum Holzelemente einbauen müssen.
"Mein Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Er hat einfach zu viel getrunken."
"Mein Vater musste die Wohnung zahlen, das Ganze war wie eine Hypothek. Wir hatten einfach immer Pech im Leben, ich und meine ganze Familie." Julias Vater war Wladimir Murawjow, ein avantgardistischer Künstler, welcher zu Sowjetzeiten nicht vom Staat unterstützt wurde. Während 90 Prozent der Bevölkerung, Fabrikarbeiter beispielsweise, ihre Wohnungen von der Regierung geschenkt bekamen, habe die Familie von Julia dafür zahlen müssen. Trotzdem glaubt Julia, dass ihr Vater und all die anderen Familienmitglieder, die mit ihr in diese Dreizimmerwohnung gezogen sind, sehr glücklich damit waren. "Zuvor lebten wir alle in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, die mit anderen Familien geteilt wurde." Damals habe der Umzug in eine Chruschtschowka eine riesige Verbesserung der Lebensqualität bedeutet. Doch nach einem halben Jahrhundert sei ihre Wohnung schlicht nicht mehr bewohnbar, sagt Julia. "Ich lebe hier mit meinem erwachsenen Sohn, meinem Hund und meiner Katze, es ist einfach zu eng." Zuvor lebte auch noch Julias Mann mit ihr. "Mein Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Er hat einfach zu viel getrunken." Julia zeigt mir ein Bild von ihrem Mann mit einer Katze, die sie im Dorf bei ihrem Ferienhäuschen auf dem Land von der Strasse gerettet und aufgezogen haben. "Das ist das 'Selbstmord-Foto'", sagt sie mit einem bitteren Lächeln. "Kurz nachdem mein Mann gestorben ist, ist auch die Katze spurlos verschwunden", erzählt sie etwas mitgenommen.
Bilder, die Julias Vater gemalt hat
Links Julias Sohn als Kind, rechts ein Foto von ihrem verstorbenen Ehemann
Erinnerungen
Julia ist eine Tierfreundin und hat einige Jahre lang als Vegetarierin gelebt. "Ich musste das aber aufgeben, in Russland ist die Auswahl für Vegetarier nicht so breit. Ausserdem mag ich Fleisch, das muss ich zugeben." Sie streichelt ihre Katze Prjanik, deren Namen "Lebkuchen" bedeutet. Ihre Chruschtschowka steht keine hundert Meter vom Preobraschenskij-Markt, einem der ältesten Freiluftmärkte der Stadt, entfernt. "Einmal war ich am Markt und habe einem kleinen Mädchen zugehört, das mit seinem Grossvater einkaufen ging. Sie fragte ihn, ob sie ein kleines Ferkel haben durfte. 'Dann können wir es aufziehen und dann essen wir es!' Ich war schockiert. Wie kann man ein Tier grossziehen wollen, nur um es dann zu töten?"
Julia mit Prjanik
"Die Russen handeln einfach unüberlegt, das ist auch der Grund, wieso sie nein zum Abriss dieses Gebäudes gestimmt haben."
Wir gehen ins Wohnzimmer und nehmen auf dem Sofa Platz, dabei versucht Julia mir zu erklären, was sie vom Renovationsgesetz hält. "Das Problem ist, dass man den Bewohnern die Entscheidung gelassen hat. Die Russen handeln einfach unüberlegt, das ist auch der Grund, wieso sie nein zum Abriss dieses Gebäudes gestimmt haben." In einer vorhergehenden Umsiedlungsphase unter dem letzten Bürgermeister Jurij Luschkow habe man die Leute nicht zuerst gefragt, sie seien einfach umgesiedelt worden. "Und das war auch gut so!", meint Julia. "Diese Häuser sind nicht schön und sie haben ihren Zweck erfüllt, sie sollen nun abgerissen werden." Doch dieser Meinung war kaum jemand in Julias Block, der grösste Teil hat sich gegen einen Abriss gewehrt. An der Abstimmung wollten die meisten nicht einmal teilnehmen. "Ich habe das Gefühl gehabt, sie stellen sich einfach alle gegen mich. Ich bin wirklich sehr enttäuscht von meinen Nachbarn. Die Abstimmung über das Renovationsgetz hat uns zu Feinden gemacht."
Wohnzimmer
Julia zeigt mir die überhitzen Wände
Wohnzimmer mit Balkon
"Hunde verboten" Schild, das Julias Sohn in einem naheliegenden Park klaute.
Korridor mit Badezimmertür
Bad
WC
"Meine Freunde sind alle auch so eingestellt, sie waren automatisch gegen das Gesetz, weil es vom Bürgermeister kommt."
Dabei war Julia zunächst ebenfalls gegen das Renovationsprojekt. Die Lehrerin bewegt sich in oppositionistischen Kreisen. Im Gang hängt eine Fahne der linksliberalen Oppositionspartei Jabloko, an die Tür zu Julias Zimmer ist ein Bild des regierungskritischen Unternehmers Michail Chodorkowskij geklebt. "Meine Freunde sind alle auch so eingestellt, sie waren automatisch gegen das Gesetz, weil es vom Bürgermeister kommt. Zuerst war ich auch so." Erst als sie sich mit der Sache eingehend auseinandersetzte, realisierte Julia, dass das Projekt für sie Sinn machte. Sie begann sich dafür einzusetzen. "Meine Freunde haben das ganz komisch gefunden. Aber die sollen auch Mal in so einer vergammelten Wohnung leben!"
"Ich war so überzeugt von diesem Projekt."
Julias Wohnblock war ursprünglich nicht für die Aufnahme in das Projekt vorgesehen. Sie stellte einen Antrag dafür, dass ihr Haus auch berücksichtigt werde. "Ich war so überzeugt von diesem Projekt. Ich habe die ganzen Formulare angefordert und Treffen organisiert, sodass wir auch abstimmen durften." Julia investierte sehr viel Zeit und Nerven in diese Abstimmungsphase, traf sich mit allen Nachbarn und versuchte, sie davon zu überzeugen, dass eine neue Wohnung für alle die beste Lösung sei. Warum sie nicht von Anfang an im Projekt waren, fragte ich Julia. "Weil ursprünglich nur 4000, statt ungefähr 8000, Chruschtschowki abgerissen werden sollen. Alle anderen konnten sich jedoch noch einbringen, wenn sie das wollten. Deshalb habe ich das Ganze organisiert. Leider hat es nichts gebracht."
skurile Dekoration
in Julias
Wohnzimmer
"Die Wohnungen haben keinen Notausgang, wir wären verloren, würde ein Brand ausbrechen."
Julia hat ihr ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht. „Ich verbinde so viel mit dieser Wohnung, meine Kindheit, die Kindheit meines Sohnes und das Leben mit meinem verstorbenen Vater und meinem verstorbenen Mann." Trotzdem will sie raus. "Meine Wasser- und Abflussröhren sind morsch oder kaputt, genau so die Kabel. Ich habe zudem Angst vor Feuer oder Gasexplosionen. Die Wohnungen haben keinen Notausgang, wir wären verloren, würde ein Brand ausbrechen", sagt Julia verzweifelt. Doch sie ist sich sicher, dass die Regierung nicht bloss Gutes im Schilde führe. Für sie ist klar, dass die Neubauten für Politiker ein Vorwand sind, um lukrative Konstruktionsgeschäfte zu machen. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass grosse Worte von offizieller Seite oft nicht in Taten umgesetzt werden. "Ich kann mir vorstellen, dass die Umsiedlung einfach gar nie stattfinden wird." Sie argumentiert, dass es keinen Sinn machen würde, einen Teil der Chruschtschowki abzureissen und einen Teil stehen zu lassen. "Sagen wir mal, es stehen hier fünf Chruschtschowki, davon stimmen vier ja, eines nein. Dies bedeutet, dass eine Chruschtschowka im Weg stehen würde. Die Regierung würde diese dann entweder auch abreissen lassen, oder alle stehen lassen."
Morsche Röhren
Ausblick aus dem Küchenfenster auf benachbarte Chruschtschowka
In ihrem Schlafzimmer, welches sie schon als Kind hatte, zeigt sie mir stolz die Malerei ihres Vaters. "Er war ein wunderbarer Künstler, ich vermisse ihn sehr." Ich frage Julia nach ihrer Mutter. "Meine Mutter lebt noch, sie schreibt. Früher waren es Bücher, Biographien von Dichtern und Schriftstellern. Heute sind es vor allem Facebook-Posts." Kurz darauf drückt sie mir ein Buch in die Hand. "Das kannst du haben, das hat meine Mutter geschrieben." Es ist die Lebensgeschichte eines chinesischen Poeten.
Biographien,
geschrieben von
Julias Mutter
Julias Eltern scheinen ein Intellektuellenpaar gewesen zu sein. Auch sie ist offenbar sehr belesen – sie erzählt spontan von der Geschichte des Kremls ("weisst du, wer dieses Symbol Russlands gebaut hat? Italiener!") und diskutiert russische Kunst in ihrem nahezu perfekten Englisch. Zudem ist sie politisch aktiv und betrachtet die Zustände in ihrer Heimat sehr kritisch. Doch das Renovationsgesetz hat sie für einmal auf die Seite der Regierung gestellt. Es ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Projekt die unterschiedlichsten Reaktionen hervorruft. Julia selbst räumt ein, dass sie sowas nicht hätte vorhersehen können. Den Widerspruch bemerkt sie aber auch bei ihren Nachbarn. "Die schauen den ganzen Tag Fernsehen und lieben alles, was die Regierung macht. Dann kommt dieses Gesetz, die Behörden empfehlen, die alten Häuser aufzugeben. Und jetzt werden diese Leute plötzlich zu Rebellen!"
Julias Schlafzimmer

Wir stehen vor dem Fenster und betrachten die verschneite Chruschtschowka-Landschaft. Die Nachbarshäuser hätten für den Abriss gestimmt, sagt mir Julia und schaut zum gegenüberliegenden Block. "Was wird nun passieren? Niemand weiss es so recht...", lacht Julia.
Modest
Modest ist ein Gegner des Renovationsgesetzes. Seit seiner Geburt wohnt er in dieser Wohnung - ein Auszug ist für ihn unvorstellbar.
Weisst du, wenn ich die Wohnung anschaue, habe ich das Gefühl, ich schaue in einen Spiegel. Sie wird älter, ich werde älter. Wir haben uns verändert, aber sind immer ein Teil voneinander geblieben.
Modest, Gegner des Renovationsprojekts
"Siehst du diese hohen, hässlichen Wohnblocks? All diese wurden neu gebaut."
Als ich Modest bei der Station Poleschaewskaja im Bezirk Choroschjowskij treffe, spüre ich schon seine Nervosität. Er ist es sich nicht gewohnt, vor der Kamera über ein Thema zu sprechen, welches ihn so sehr beschäftigt. Modest führt mich von der Metrostation zur nahegelegenen Bushaltestelle, welche uns zu seinem Wohnviertel bringen wird. Die Fahrt dauert ungefähr 10 Minuten und während wir aus dem Fenster schauen, erklärt er mir, wie sehr dieser Bezirk sich verändert. "Vor einigen Jahren gab es hier noch nicht mal eine Metrostation, jetzt wollen sie die Metrolinie sogar noch weiter ins Wohnviertel erweitern. Seit Kurzem gibt es hier auch eine Autobahn. Und siehst du diese hohen, hässlichen Wohnblocks? All diese wurden neu gebaut." Beim Aussteigen werfe ich nochmals einen Blick auf die befahrene Strasse, die tatsächlich auf eine Autobahn führt. Hinter ihr sind kilometerweit hohe Wohnblocks zu sehen. Mir wird schnell klar, wie sehr Angst Modest davor hat, in eine dieser hohen Plattenbauten umgesiedelt zu werden. Choroschjowskij scheint ein Bezirk zu sein, in welcher die Stadtregierung investiert. "Dies ist einer der Gründe, warum man unser Zuhause abreissen will, die Gegend ist gut und lukrativ!", meint Modest erbittert.
Die Befahrene
Strasse in Modests
uMGEBUNG FÜHRT
auf EINE nEUE
aUTOBAHN.
"Wenn es in Russland schneit, bleibt der Schnee monatelang liegen."
Wir laufen durch die Vorhöfe zu Modest nach Hause, es ist ein sehr kalter, dunkler Tag, der Rest des Schnees, der vor zwei Wochen fiel, liegt noch immer auf dem Boden. "Wenn es in Russland schneit, bleibt der Schnee monatelang liegen. Es wird nie warm genug, dass er schmelzen könnte. Eine nicht wirklich schöne Zeit für Touristen, Moskau ist einfach dreckig im Winter", sagt Modest und schaut mich fragend an. Ich versichere ihm, dass mich der Schnee nicht störe und begebe mich mit ihm in die Wohnung. Sie ist sehr gemütlich, warm und minimalistisch eingerichtet. Modest bietet mir Finken an und führt mich dann ins Wohn- und Schlafzimmer. "Ich wohne hier mit meiner Frau und unserem Hund Dschintari. Das Wohnzimmer ist gleichzeitig das Schlafzimmer, weil wir das zweite Zimmer als Büro und Fernsehraum nutzten. Das ist aber vollkommen in Ordnung für uns, wir fühlen uns hier wohl." Der Hund wurde aus Weissrussland adoptiert. "In Minsk werden Streuner eingefangen und fünf Tage lang in einem Tierheim untergebracht. Wenn sie bis zum Ablauf dieser Zeit niemand adoptiert, werden sie erschossen." Deshalb hätten sie entschieden, einen Hund von dort aufzunehmen. Modest sei am Anfang etwas skeptisch gewesen, doch mittlerweile ist Dschintari sein treuer Begleiter und Freund.
WC
Bad
"Ich habe hier eine wunderbare Kindheit verbracht und der Abriss dieses Hauses würde für mich ein sehr trauriges Ende dieser Zeit bedeuten."
Modest ist ein sehr gastfreundlicher Mensch, er bittet mich, mich an den Tisch zu setzen und serviert Tee, Kuchen und polnische Schokolade. "Ich hoffe, du magst das. Ich habe auch noch Käse und Brot. Die Schokolade hat Vogelmilch drin." Er lacht. Vogelmilch ist nicht wirklich die Milch eines Vogels, so nennt man ein Konfekt, das in den 40er-Jahren in Polen erfunden wurde und seither in ganz Osteuropa verkauft wird. Bei Tee und Kuchen beginnt mir Modest über sich zu erzählen. "Ich habe vor einigen Monaten meinen Job in einem Büro aufgegeben. Ich bin leidenschaftlicher Schreiber, wobei ich hauptsächlich Gedichte schreibe, welche ich auf Facebook publiziere. Jetzt muss ich mir aber wieder eine Stelle suchen, Schriftsteller möchte ich nicht hauptberuflich sein." Schon bald kommen wir aufs Renovationsgesetz zu sprechen. "Ich wohne hier seit meiner Geburt. Damals, vor 40 Jahren, lebten mein Vater, meine Mutter sowie meine Grossmutter und Urgrossmutter in dieser Wohnung. Ich habe hier eine wunderbare Kindheit verbracht und der Abriss dieses Hauses würde für mich ein sehr trauriges Ende dieser Zeit bedeuten." Modests Eltern und Grosseltern wohnten zuvor in einer Kommunalka. Dort teilten sich alle ein einziges Zimmer.
Viele Einrichtungsgegenstände in Modests Wohnung stehen hier schon seit Jahrzehnten. "Mir gefällt die Wohnung so wie sie ist. Ja, sie ist nicht modern und wir haben sie auch nie renoviert, aber für uns passt das", sagt Modest überzeugt. Die Wohnung ist auch aus meiner Sicht sehr ansprechend, sie ist geschmückt mit Fischgräteparkett und grünen Pflanzen, der Balkon wurde von Modest und seiner Frau umgebaut. Er ist daher anders als die gewöhnlichen Chruschtschowki-Balkone. "Wir haben aus dem Balkon, der normalerweise eigentlich ein Erker mit Fenstern wäre, einen offenen Balkon gemacht. Deshalb ist es im Wohnzimmer auch so hell. Zudem hören wir die Vögel zwitschern. Diese Wohnung bedeutet für mich Lebensqualität – wir sind in der Millionenstadt Moskau und gleichzeitig kann ich ohne Lärm auf meinem Balkon sitzen und Vögel beobachten." Jeden Winter stelle Modest Vogelfutter bereit, um so die Vögel vor dem Hungern zu retten. "Es kommen immer wieder die selben, sie sind teilweise richtig zutraulich!"
Wir begeben uns ins kleinere Zimmer nebenan. Dieses war Modests Schlafzimmer, als er noch ein Kind war. "Der grösste Umzug meines Lebens bis jetzt war derjenige vom kleinen ins grosse Schlafzimmer", sagt er. Wir lachen beide und langsam beginne ich zu verstehen, wie sehr Modest an dieser Wohnung hängt. "Schau, diesen Schrank hatte meine Urgrossmutter schon in ihrer Kommunalka. Er ist etwa 70 Jahre alt und extrem schwer, ich habe keine Ahnung, wie sie den in den fünften Stock gebracht haben!"
Modest vor dem
Schrank seiner
Urgrosseltern.
"Diese Wohnung bedeutet für mich nicht nur schöne, erfüllte Kindheitserinnerungen, sondern auch traurige und prägende wie der Tod meines Vaters."
Modest erzählt mir von den vier Generationen seiner Familie, die hier bereits lebten. "Meine Urgrossmutter, meine Grossmutter und mein Vater als Teenager waren die ersten, die in diesem Haus wohnten. Als mein Vater meine Mutter heiratete, kam auch sie dazu und später dann ich. Meine Urgrossmutter, meine Grossmutter und mein Vater starben und meine Mutter ist ausgezogen, nachdem ich meine Frau geheiratet habe und sie hier eingezogen ist. Du siehst, ich verbinde mein komplettes Leben mit dieser Wohnung." Modest wird sentimental, als er vom Tod seines Vaters erzählt. "Ich sah meine Grossmutter und meinen Vater in dieser Wohnung sterben. Diese Wohnung bedeutet für mich nicht nur schöne, erfüllte Kindheitserinnerungen, sondern auch traurige und prägende wie der Tod meines Vaters."
Modest mIT BESTECK,
WELCHES ER VON
SEINEN uRGROSSELTERN
ERBTE.
"Die Küche scheint klein zu sein, aber alles steht am richtigen Ort."
Modest will mir erklären, warum die Chruschtschowka eine so praktische Innovation war. "Siehst du die ganzen Einbauschränke? Das ist eine so gute Idee! Wir können so viele Dinge darin verstauen. In neuen Bauten wird oft darauf verzichtet." Wir gehen weiter in die Küche, welche laut Modest sehr ergonomisch aufgebaut sei. "Die Küche scheint klein zu sein, aber alles steht am richtigen Ort. Der Koch oder die Köchin kann sich einfach drehen und sofort an etwas gelangen, ohne gross in der Küche herumzuirren. Deshalb hat man sie so klein und praktisch gebaut – alles ist in greifbarer Nähe." Modest ist sich jedoch bewusst, dass die Küche zu klein ist für die vielen Küchengeräte, die heute erhältlich sind.
Ich öffne das Fenster in der Küche und werfe einen Blick auf den Fussballplatz, der von Oben zu sehen ist. Modest ist genervt. "Hörst du die Jungs schreien? Früher war es viel ruhiger hier, doch seit es diesen Fussballplatz gibt haben wir oft Lärm, weil die jungen Bewohner auf dem Platz Fussball spielen oder sonstige Faxen anstellen." Wegen der umliegenden Gebäude halle das Geschrei der Fussballer im ganzen Hof. "Ich weiss immer ganz genau, wer ein Tor geschossen oder eines verpasst hat." Dies sei das letzte, was Modest vermissen würde, wenn er aus der Wohnung raus müsste. "Die schreien das ganze Wochenende auf diesem Platz herum, ich hasse Fussball und ich hasse diesen Fussballplatz!"
"Das ist meine Wohnung, mein Eigentum!"
Trotzdem nimmt er die schreienden Fussballspieler in Kauf, um hier zu bleiben. "Aber es ist zu spät. Es wurde schon abgestimmt und die Bewohner meiner Chruschtschowka waren klar für den Abriss. Wir werden gehen müssen.", sagt Modest traurig. "Aber eigentlich habe ich das Gefühl, wir wurden von der Regierung hintergangen. Wir konnten online über eine App abstimmen und so kam es, dass ein Teil der Bewohner per Post, ein anderer Teil via App abstimmten. Und das einzige, was wir am Schluss zu sehen bekamen, war das Resultat, ohne jegliche Erklärungen." Die 75 Prozent, die anscheinend für den Abriss stimmten, seien überhaupt nicht transparent dargestellt worden. Niemand habe die Statistiken prüfen können. Modest fühlt sich von der Stadtregierung veräppelt. "Das ist meine Wohnung, mein Eigentum! Ich brauche niemanden, der mir sagt, dass meine Wohnung zu alt sei. Wenn ich mich nicht mehr wohl fühle, dann will ich selber entscheiden können, ob ich raus will. Ausserdem weiss ich, was ich verlieren werde – habe aber keine Ahnung, was mir die Regierung dafür zurückgibt." Auf der emotionalen Ebene, sagt Modest, würde er mit dem Abriss sein Zuhause, in welchem er seit über 40 Jahren lebt, verlieren. Auf der rationalen Ebene würde er mit dem Verlust seiner Wohnung sein Eigentum verlieren - ohne Garantie, dass es angemessen ersetzt werde.
Das ehemalige
Kinderschlafzimmer
von Modest wird
heute als Büro
benutzt.
"Der Boden ist völlig vergiftet von den ganzen Zigaretten und dem Abfall, der hier einfach auf den Boden geschmissen wird."
Es wird langsam Abend und Dschintari ungeduldig – er will raus an die frische Luft. Ich begleite Modest auf dem Spaziergang durch die Vorhöfe. "Pass auf, dass du nicht auf Hundedreck stehst." Einfacher gesagt als getan, denke ich mir, die Vorhöfe sind überfüllt mit Hundehäufchen. "Es ist schade, dass die Bewohner nicht auf ihre Gärten im Vorhof achten, der Boden ist völlig vergiftet von den ganzen Zigaretten und dem Abfall, der hier einfach auf den Boden geschmissen wird." Gras würde hier deshalb schon lange keines mehr wachsen. Ein paar hundert Meter von Modests Chruschtschowka entfernt steht ein leeres Gebäude. "Das war mein Kindergarten. Ich kann vom Balkon auf ihn hinunterschauen."
"Studenten sollten ja in Paris nur ein paar Jahre in den Wohnungen leben, während die Chruschtschowki in der ganzen UdSSR mindestens 20 Jahre halten sollten."
Bevor ich mich von Modest verabschiede, bitte ich ihn, mir die Geschichte der Chruschtschowki genauer zu erklären. "Als Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion an die Macht kam, begann er damit, sich im Vergleich zu Stalin den USA und Europa anzunähern. Bei einer Reise durch Frankreich sah er Unterkünfte für Studenten, welche sehr simpel aussahen und einfach zu bauen waren. So brachte er die Idee der Chruschtschowka in die Sowjetunion." Natürlich, sagt Modest, seien die Gebäude mit Materialien gebaut worden, die länger hielten als diejenigen temporären Studentenwohnungen. "Studenten sollten ja in Paris nur ein paar Jahre in den Wohnungen leben, während die Chruschtschowki in der ganzen UdSSR mindestens 20 Jahre halten sollten." Die Chruschtschowki würden zwar so heissen, da sie nach Nikita Chruschtschow benannt wurden, viele von ihnen seien jedoch auch nach seinem Rücktritt im Jahr 1964 erbaut worden. "Meine Chruschtschowka und alle, die hier stehen, wurden Mitte der 60er Jahren gebaut, unter der Regierung von Leonid Breschnew." Danach habe die Regierung jedoch beschlossen, dass es nicht praktisch sei, nur fünfstöckige Häuser zu bauen. Man beschloss, neun- bis zwölfstöckige Blocks zu errichten.
Wir stehen nun wieder bei der Chruschtschowka von Modest und sind kurz davor, uns zu verabschieden. Modest schaut zu seiner Wohnung hoch und wird dabei nostalgisch. "Weisst du, wenn ich die Wohnung anschaue, habe ich das Gefühl, ich schaue in einen Spiegel. Sie wird älter, ich werde älter. Wir haben uns verändert, aber sind immer ein Teil voneinander geblieben."
Modest mit seinem
vater, im hintergrund
ihre chruschtschowka,
1979.
bild: zvg/ modest osipow
Anna
Anna hat erst vor ein paar Jahren ihre Wohnung mit ihrem Mann gekauft und renoviert. Nun soll das Haus abgerissen werden. Sie ist eine entschiedene Gegnerin des Renovationsprojekts.
Das Haus erinnert an die schlimme Zeit der Unterdrückung unter Stalin. Reisst man es ab, geht ein Stück Geschichte des grossen Terrors von Stalin verloren.
Anna, Gegnerin des Renovationsprojekts
Anna holt mich direkt bei den Gleisen der Metrostation Nagornaja ab, etwas ausserhalb der Stadt. Sie ist sehr freundlich und begrüsst mich mit einer Umarmung. "Ich freue mich sehr, dass du diese Reise auf dich genommen hast, um über dieses Thema zu schreiben. Für uns hier in Moskau hat es eine grosse Bedeutung." Wir machen uns auf den Weg zu Anna nach Hause. "Es ist ungefähr 15 Minuten zu Fuss, aber es ist ein schöner Spaziergang und du kannst die Umgebung des Bezirks Nagornij kennenlernen", sagt sie. Wir laufen über eine Brücke, unter uns fliesst ein Fluss durch. "Es ist wirklich sehr idyllisch hier, wie du siehst haben wir einen Fluss. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass wir hier in Moskau sind", sagt Anna stolz.
der bezirk Nagornij
"Mein Mann lernte als Kind hier Skifahren, lange bevor wir hierhergezogen sind."
Kurz bevor wir bei ihrem Zuhause ankommen, stelle ich mit Erstaunen fest, das Annas Quartier auch ein Skigebiet beinhaltet. Auf der anderen Seite des Flusses erblicke ich Skifahrer, die auf einem kleinen Hügel hinunterfahren und sich von einem Bügellift wieder hochschleppen lassen. Anna erklärt mir, dass es hier eine Kunstschneepiste gibt. "Die wurde in der Sowjetunion erbaut. Mein Mann lernte als Kind hier Skifahren, lange bevor wir hierhergezogen sind. Nie hätten wir gedacht, dass wir direkt gegenüber mal wohnen würden."
"Chruschtschowki und ähnliche Gebäude gehören einfach zum Charakter von Moskau."
Anna und ihre Familie sind hier vor zehn Jahren eingezogen, kurz nachdem sie ihren jetzigen Mann heiratete. "Wir lebten beide an einem Ort, von dem wir wegziehen wollten und so haben wir uns entschieden, eine neue, grössere Wohnung zu kaufen und die anderen zu verkaufen. Da haben wir diese Wohnung gefunden, an diesem paradiesischen Fleck, umgeben von Bäumen, einem wunderbaren Berg und einem Fluss." Anna und ihr Mann wuchsen beide in Moskau auf und hätten deshalb explizit nach einer Wohnung wie dieser gesucht. "Wir sind beide in einer solchen Wohnung aufgewachsen – Chruschtschowki und Chruschtschowki-ähnliche Gebäude gehören einfach zum Charakter von Moskau. Reisst man sie ab, wird Moskau nie mehr dieselbe Stadt sein."
das haus, in dem
anna mit ihrer
familie wohnt.
Wir gelangen zur Wohnung und gehen in den vierten Stock. "Dieses Haus sieht zwar aus wie eine Chruschtschowka, ist es aber nicht. Es hat nur vier Stöcke und ist aus rotem Backstein. Das Haus wurde 1949, in der Zeit Stalins, erbaut. Wir vermuten, dass dabei deutsche Kriegsgefangene und russische Gefängnisinsassen als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden."
"Das Haus wurde 1949, in der Zeit Stalins, erbaut. Wir vermuten, dass dabei deutsche Kriegsgefangene und russische Gefängnisinsassen als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden."
Als ich die Wohnung betrete, bin ich sehr überrascht: Anders als in den anderen Chruschtschowki, die ich auf meiner Reise nach Moskau gesehen habe, ist diese sehr modern. Sie hat kein Parkett, sondern Plattenboden, die Decken sind höher und die Zimmer viel grösser. "Wie du vermutlich merkst, haben wir die Wohnung komplett umgebaut." Sie hätten die Plattenböden eingebaut, weil das Parkett von der vorherigen Mieterin ruiniert worden sei. "Sie war eine Alkoholikerin und liess die Wohnung völlig vergammeln." Zudem hätten sie die Wände gestrichen und die Bäder renoviert. "Aber als wir erfahren haben, dass unser Zuhause abgerissen wird, haben wir sofort damit aufgehört. Es macht für mich keinen Sinn, die Wohnung weiter zu renovieren, wenn sie sowieso bald dem Erdboden gleich gemacht wird."
Anna ist gegen das Renovationsgesetz, die restlichen Bewohner des Hauses waren aber dafür, "weil ihre Wohnungen alt sind und sie zu faul sind, diese zu renovieren. Wir mussten das auch alles selbst machen! Es hätte sich viel mehr gelohnt, die Wohnungen an diesem Standort zu renovieren. Denn sobald man dieses Haus abreisst, werden wir diesen schönen Platz am Flussufer aufgeben müssen und in Häuser ziehen, die weiter hinten stehen." Die neuen Häuser sind bereits im Bau - vor dem Eingang zu Annas Block ist eine betriebsame Baustelle zu sehen.
Wir gehen ins Wohnzimmer und Annas Mann, Oleg, serviert uns Tee und die obligatorische Schokolade. "Ich bin Psychologin und oft in Europa herumgereist, um mich weiterzubilden. Mein Lieblingsort war aber immer Edinburgh in Schottland, da habe ich auch die längste Zeit verbracht." Man merkt Anna ihre vielen Aufenthalte in Grossbritannien an; sie spricht ein sehr schönes Englisch.
"Ich weiss genau, dass mir die Regierung nicht das zahlen würde, was die Wohnung wirklich wert ist."
Anna erzählt mir weiter, dass das Renovationsgesetz einfach nicht mit rechten Dingen zugehe. "Ich habe ja diese Wohnung gekauft, das heisst, mir gehört eigentlich auch ein Teil dieses Landes hier. In diesem Gebäude hat es 24 Wohnungen, in der neuen Wohnung hat es dann aber möglicherweise über 100 Wohnungen, weil es oft Hochhäuser sind. Mein Anteil an Land würde somit enorm verkleinert werden und ich würde noch mehr an Eigentum verlieren." Anna erklärt mir zudem, dass sie die Wohnung der Regierung verkaufen und dann eine eigene Wohnung suchen könnte. "Aber ich weiss genau, dass mir die Regierung nicht das zahlen würde, was die Wohnung wirklich wert ist." Sie scheint mir zwar verzweifelt, kennt aber ihre Rechte genau und wird dagegen ankämpfen, sobald es wirklich zum Abriss kommt.
Anna und ihr Mann
oleg
Annas Schwiegertochter kommt in die Küche und macht sich einen Tee. "Das ist Nastja, sie wohnt hier mit uns. Nastja macht Puppenkleider und Kunst, du musst es dir unbedingt anschauen!" Zusammen gehen wir ins Kinderzimmer des Sohnes, wo auch Nastja wohnt, und schauen uns die Puppenkleider an. "Ich male auch sehr gerne", sagt sie, und zeigt auf ein Bild von A$AP Rocky, einem New Yorker Rapper.
Anna und ich setzen uns wieder ins Wohnzimmer und trinken Tee. "Ich mag dieses Zimmer am meisten, weil die Aussicht auf den Berg und die Bäume so wunderbar ist. Hier verbringen wir mit der Familie die meiste Zeit." Hier arbeitet Anna auch. Sie liebt ihren Beruf. "Ich bin Psychologin der Theorie von Carl Jung und habe hier in Moskau eine Praxis dafür", sagt sie stolz.
"Ich und meine Familie sind einfach unglaublich glücklich hier."
Als ich sie frage, mit welchen glücklichen Ereignissen sie diese Wohnung verbindet, lacht Anna. "Jeder Tag in dieser Wohnung ist mit schönen Dingen geschmückt, ich kann dir nicht genau sagen, welche Ereignisse diese Wohnung für mich besonders speziell machen, aber ich und meine Familie sind einfach unglaublich glücklich hier."
aus dem fenster des
wohnzimmers
"Ich habe viele Nachbarn, die wirklich jeden Rappen zählen müssen. Und das macht sie nicht frei, es macht sie zu Sklaven im Inneren."
Anna wird aber nachdenklicher, als ich sie nochmals auf das Renovationsgesetz anspreche. "Das schlimmste für mich ist, dass meine Nachbarn über mein Leben entscheiden, darüber, wo ich mit meiner Familie in Zukunft wohnen darf und wo nicht." Aber sie sagt mir, dass sie einige Nachbarn auch verstehen könne, da viele von ihnen im Elend leben würden. "Ich habe viele Nachbarn, die wirklich jeden Rappen zählen müssen. Und das macht sie nicht frei, es macht sie zu Sklaven im Inneren. Sie wollen, dass andere Entscheidungen für sie treffen und sie wollen, dass jemand ihnen etwas Schönes gibt, in diesem Fall eine neue Wohnung."
Oleg schaut auf die
Bauarbeiten, die vor
dem Haus gemacht
werden.
Anna sagt mir zudem, sie habe Angst davor, dass das Renovationsgesetz erst in zehn oder fünfzehn Jahren umgesetzt werde. "Dann bin ich eine alte Frau und nicht mehr so flexibel. Je älter ich werde, desto schwerer wird es für mich."
"Das Haus erinnert an die schlimme Zeit der Unterdrückung unter Stalin."
Anna erzählt von einem traurigen Ereignis in ihrer Familiengeschichte. Unter der Herrschaft Stalins wurden ihre Urgrosseltern als Kulaken – wohlhabende Bauern – enteignet und mussten in die Stadt ziehen. "Sie wurden aus ihrem Haus gerissen und mit der ganzen Familie in ein neun-Quadratmeter-Zimmer umgesiedelt. Sie mussten im Bergbau arbeiten und Kohle fördern." Das Renovationsgesetz sei für sie vielleicht gerade wegen dieser Geschichte so schlimm. "Es scheint, als würde sich die Geschichte wiederholen. Ich will einfach nichts unter Druck von Oben tun!", sagt Anna.

Ein weiterer Grund, das Gebäude vor dem Abriss zu schützen, sei laut Anna sein geschichtlicher Wert. "Das Haus erinnert an die schlimme Zeit der Unterdrückung unter Stalin. Reisst man es ab, geht ein Stück Geschichte des grossen Terrors von Stalin verloren."
Da das dach flach
ist und der regen so
nicht ablaufen kann,
kommt es oft zu
wasserschäden.
In Russland sagen wir, dass wir mit der Revolution das grösste Projekt der Welt gestartet haben – den Kommunismus"
Annas Liebe für ihr Zuhause steht im Widerspruch zu ihrem Abscheu gegenüber seiner Entstehungszeit. In unserem Gespräch kommen die Parallelen und Unterschiede zwischen ihrer Situation und der Stalin-Ära immer wieder vor. Einerseits spricht sie von den Gemeinsamkeiten des bevormundenden Renovationsprojekts mit den Repressalien und Verbannungen des grossen Terrors. Andererseits ist sie skeptisch, dass aus den "Renovationen" etwas werden kann, da Russland seine ehrgeizigen Vorhaben nie verwirklichen könne. "Ich kenne unser System, wie man es nennen könnte, seit 58 Jahren. In Russland sagen wir, dass wir mit der Revolution das grösste Projekt der Welt gestartet haben – den Kommunismus. Daraus wurde nichts, trotz des lauten, leuchtenden Anfangs." Anna überlegt kurz, dann sagt sie: "Nur Stalin konnte das Land vorantreiben. In seiner Zeit gab es riesigen wirtschaftlichen Fortschritt. Aber es war eine Zeit, in der das Leben ein Gefängnis war. Ein totales Gefängnis. Ich will nicht, dass diese Zeit wiederkommt."
Zum Abschluss möchte mir Anna eines der ältesten Objekte in dieser Wohnung zeigen. "Das ist ein Eisen, welches man in alten Wohnungen zur Ventilation auf ein Loch im Boden gelegt hat. Und das spannende hier ist, dass noch eingemeisselt wurde, wer es gemacht hat und wann." Anna streckt es mir stolz entgegen. "Dieses Eisen wurde im Jahre 1949 in Tula von einem Künstler namens Makarow hergestellt."
Erinnerung an eine
andere Zeit
Anna und Oleg begleiten mich nach draussen, um mir nochmals den Weg zurück zu beschreiben. "Bist du sicher, dass wir nicht mit dir kommen sollen?", fragt Oleg einige Male und ich versichere ihm, dass ich gut alleine zurechtkomme. "Oleg kann nie nicht die Vaterrolle übernehmen", lacht Anna und wir verabschieden uns. Ich geniesse noch einmal die Aussicht auf den Berg und schaue zu, wie einige Skifahrer den Berg hinunterdüsen.
Vivian
Vivian wurde in einem früheren Renovationsprogramm, welches vor ungefähr zehn Jahren startete, bereits umgesiedelt. Eine Möglichkeit zur Abstimmung gab es damals noch nicht. Vivian ist mit ihrem neuen Zuhause nicht zufrieden.
Das einzig tolle an dieser Wohnung ist die Aussicht aus dem Fenster und von den gemeinsam genutzten Balkonen.
Vivian, bereits umgesiedelt
"Ich habe heute noch eine Vernissage und daher allerhöchstens drei Stunden Zeit!"
Vivian ist eine Künstlerin und Fotografin mit kubanischen Wurzeln. Im Bezirk Kotlowka, in dem sie wohnt, fallen zwei Sachen sofort auf, wenn man aus dem Untergrund der U-Bahn an die freie Luft kommt: ein massives Monument für den vietnamesischen Revolutionär und Kommunisten Ho Chi Minh und etwa zehn riesige, grün-weisse Hochhäuser, die neben den kleinen Chruschtschowki, die um sie herum stehen, überdimensional wirken. In genau so einem Block wohnt Vivian seit zwei Jahren. Sie musste in einer vorgehenden Umsiedlungsphase bereits aus ihrer alten Wohnung raus und in dieses Hochhaus einziehen. Ich bin froh, darf ich Vivian treffen, denn sie ist gerade sehr mit ihrer Kunst beschäftigt. "Ich habe heute noch eine Vernissage und daher allerhöchstens drei Stunden Zeit!", sagt sie mir hastig, als ich es endlich in den 18. Stockwerk schaffe. "Die Aufzüge hier sind sehr langsam, ich weiss. Ich bin oft mit dem Fahrrad unterwegs und muss es immer mit dem Lift nach oben nehmen, weil es keinen Fahrradabstellplatz hat. Da warte ich teilweise 20 Minuten auf einen Lift – es ist echt unglaublich mühsam."
Als ich die Wohnung betrete, sehe ich als erstes die Küche. Sie ist sehr farbig, Tassen hangen an Schrauben von den Wänden herunter. "Ich musste kreativ werden mit der Küche. Erstens haben wir zu wenig Platz für unser Geschirr, zweitens mussten wir, wie du siehst, aus dem Gang die Küche machen, denn meine Tochter wohnt auch hier", sagt Vivian. Ihre Tochter wohnt im Zimmer, das eigentlich als Küche fungieren sollte. Vivian selber schläft im Wohnzimmer auf einem Bettsofa, zusammen kommen sie in dieser Wohnung gerade mal auf 37 Quadratmeter.
"Es war viel Arbeit, die Wohnung so hinzubekommen, wie sie jetzt ist."
Sie zeigt mir die Wohnung und ich bin nicht überrascht: Sie hat ihre künstlerische Ader vollkommen ausgenutzt und aus dieser kleinen Wohnung eine richtige Oase gezaubert. "Es war viel Arbeit, die Wohnung so hinzubekommen, wie sie jetzt ist. Als erstes mussten wir die ganze Küche rausnehmen und im Korridor installieren, dann mussten wir die ganzen hässlichen Tapeten abreissen und die Wände frisch streichen." Sie erzählt mir weiter, dass sie zudem ihre Bücherregale verkürzen musste. "Die Decken in meiner alten Wohnung waren viel höher als hier, deshalb musste ich meine Wandregale verkleinern." Bücher, vor allem zu Kunst und Fotografie, seien Vivian sehr wichtig, aber sie fänden kaum noch Platz in dieser Wohnung. Ich sehe mich um und es stimmt, an jeder freien Wand steht ein Bücherregal, der vollgepackt ist mit Büchern, aber man kommt kaum an sie ran. Die anderen Möbel lassen im engen Zimmer nämlich fast keinen Bewegungsraum.
Vivian im Wohnzimmer
Auf dieser Couch im Wohnzimmer schläft sie
Vivian lagert nur einige ihrer Bilder in dieser Wohnung
Wohnzimmer
Kunst im Wohnzimmer
"Regierungsbeauftragte standen eines Tages vor unserer Tür und sagten, dass wir bald raus müssten."
Wir setzen uns aufs Sofa, auf welchem Vivian auch schläft, und sie erzählt mir vom Umzug in diese Wohnung. "Das Ganze begann vor ungefähr zehn Jahren. Wir durften nicht über unsere Zukunft abstimmen, Regierungsbeauftragte standen eines Tages vor unserer Tür und sagten, dass wir bald raus müssten." So musste Vivian ihre geliebte Wohnung, welche gleich gegenüber ihrem jetzigen Block stand, aufgeben.
Vivian serviert mir Tee und Süssigkeiten in der Küche
Vivian ist sehr unglücklich in der Wohnung, in der sie nun lebt. "Man hat uns eine grössere, besser gebaute Wohnung versprochen. Jetzt lebe ich mit meiner Tochter in diesem kleinen Apartment, das noch weniger Quadratmeter hat als die Wohnung, die wir zuvor hatten." Hätte Vivian zum Arbeiten ihr Atelier nicht, könne sie hier nicht wohnen. "Meine Tochter arbeitet bei Ikea als Grafikerin und kann es sich noch nicht leisten, auszuziehen. Aber ich wünsche mir, dass sie bald heiratet und ich die Wohnung für mich habe." Vivian lacht. Sobald sie eine bessere, nicht allzu teure Wohnung finde, wolle sie die jetztige sofort verkaufen und ausziehen. "Aber es ist schwer, eine solche Wohnung zu einem angemessenen Preis zu verkaufen", sagt sie bedrückt.
Vivian zeigt mir Bilder
vom Abriss ihrer Wohnung.
"Wir hatten kürzlich die BBC hier, weil meine Tochter eine afrikanische Riesenschnecke als Haustier hat."
Vivian möchte mir das Zimmer ihrer Tochter zeigen. "Wir hatten kürzlich die BBC hier, weil meine Tochter eine afrikanische Riesenschnecke als Haustier hat." Jemand habe die Schnecke einfach bei Ikea liegengelassen, sie sozusagen ausgesetzt. "Meine Tochter hat sie aufgenommen und gerettet. Jetzt lebt sie bei uns. Und da dies ein so absurdes Haustier ist, lockt es Medien aus aller Welt an." Wir sprechen weiter über ausländische Medien mit Bezug auf das Renovationsgesetz. "Ich glaube, dass es bei dieser zweiten Phase der Umsiedlung besser laufen wird, weil es zum internationalen Thema geworden ist. Die Regierung kann die Leute nicht mehr so behandeln, wie wir damals behandelt wurden, weil die ganze Welt zuschaut! Ich denke, dass das Renovationsprojekt eine gute Idee ist, sofern die Leute tatsächlich in bessere Wohnungen umgesiedelt werden." Sie wünsche es sich sehr für die Bewohner der Chruschtschowki. "Ich weiss, wie schlecht die Wohnsituation in den Chruschtschowki ist und hoffe daher, dass die Leute bald in bessere Wohnungen ziehen dürfen – aber nicht in welche wie diese hier!"
Vivian drückt mir ihr neuestes Buch in die Hand. "Ich habe anhand von Fotos Moskau mit Kuba verglichen - mein Vater stammte von dort. Er hat meine Mutter kennengelernt, als er in der UdSSR studierte. Ich mag beide Orte, aber mag ihre beiden Regierungen nicht – es läuft bei beiden einfach zu viel falsch." Auf die Frage, ob sie gerne und oft nach Kuba gehe, antwortet sie mit nein. "Mein Vater wohnte dort, ist aber vor einigen Jahren gestorben und ich finde deshalb keine Gründe mehr, dahin zu gehen." Trotzdem hat sie eine Pflanze im Wohn- und Schlafzimmer, die sie an die Heimat ihres Vaters erinnern soll. "Das ist eine kubanische Pflanze, die gibt es in Havanna an jeder Ecke."
Links: Vivians
Kubanische Pflanze,
welche sie an ihre
heimat Erinnert.
"Das einzig tolle an dieser Wohnung ist die Aussicht aus dem Fenster und von den gemeinsam genutzten Balkonen." Vom Fenster aus hat man eine wirklich eindrückliche Aussicht auf eine der Sieben Schwestern, der Hochhäuser, die unter der Regierung Stalins in den 50er Jahren erbaut wurden und in der ganzen Stadt verteilt sind. Die gigantischen Türme vermischen Neogotik und Neoklassizismus um eine imposante, fast einschüchternde Wirkung zu kreieren.
Aussicht auf eine der "Sieben Schwestern"
Ich möchte mir aber auch die Balkone anschauen, die nicht an die Wohnungen angeschlossen sind, sondern von der Wohnung unabhängig angebaut sind. Die Balkone sind Teil des Treppensystems. "Diese Balkone sind öffentlich, weil im Fall eines Brandes alle die Treppen benutzen können müssen", erklärt Vivian.
Vivian ist selten hier oben und wenn sie es mal ist, möchte auch sie Fotos schiessen.
"Das Haus, in dem ich zuvor wohnte, war keine Chruschtschowka."
Der Weg zu den Balkonen ist lang und kompliziert – aber er lohnt sich. "Hier hat mein eine Aussicht über ganz Moskau. Auch die vereinzelten Chruschtschowki, die in dieser Umgebung noch nicht abgerissen wurden, sind hier zu sehen." Der Bezirk Kotlowka sei der erste Ort in Moskau gewesen, in dem man Chruschtschowki gebaut habe, hier würden also die ältesten Chruschtschowki stehen. "Das Haus, in dem ich zuvor wohnte, war zwar keine Chruschtschowka, war aber vom Bau und Prinzip her ähnlich und fiel deshalb auch unter das Abrissgesetz." Vivian zeigt mit dem Finger auf den Ort, an dem ihr Haus stand. "Sie haben es nach unserem Umzug sofort abgerissen und ein neues Gebäude darauf gebaut."
Zwischen diesen zwei Blocks stand Vivians Chruschtschowka
Auf dem Weg zurück in die Wohnung zeigt Vivian auf die Heizkörper, die im Treppenhaus stehen. "Solche uralten und unpraktischen Radiatoren hingen bei uns zuerst in der Wohnung. Ich und meine Tochter haben sie rausgerissen und mit neuen ersetzt."
Heizkörper, die auch
in vivians wohnung
standen.
"Ich muss jetzt leider wieder an die Arbeit, ich habe noch vieles vorzubereiten", sagt mir Vivian. Bevor ich wieder 10 Minuten auf den Aufzug warte, verabschiede ich mich von ihr und geniesse ein letztes Mal die wunderbare Aussicht auf Moskau.
Vivian bei der Arbeit
About
Carmina Lena Grünig
Bachelor Multimedia Production
E-Mail: carmina.gruenig@gmail.com
Mobile: +41797929906
Ort: Bern, Schweiz
Made on
Tilda